Adobe Fresco: eine Kampfansage an Procreate
Seit voriger Woche bietet Adobe das Zeichenprogramm Fresco nicht mehr im Abo an. Eine klare Kampfansage an Procreate.
Der folgende Testbericht spiegelt meine persönlichen Eindrücke wider. Ich wurde weder von Procreate noch von Adobe dafür bezahlt.
Als alter Procreate-Nerd war ich überrascht, als die Nachricht in meinen Newsfeed gespült wurde. Nachdem die Stimmen zuletzt immer lauter wurden, dass Adobes Preisschraube über die Schmerzgrenze geht, schwenkt das millionenschwere Unternehmen auf Angriffskurs und zielt auf die Procreate-Fangemeinde. Obwohl Procreate seit 2011 exklusiv auf Apples mobilen Geräten verfügbar ist, hat sich die App zum Favoriten in der weltweiten Kunstszene entwickelt. Adobe hingegen ist ein Urgestein und Industriestandard. Kleiner Fun Fact: Photoshop wurde ursprünglich 1987 von ILM-Mitarbeiter John Knoll (Star Trek und Star Wars) entwickelt, der damals an dem Film „Abyss" arbeitete und für die Effekte ein eigenes Programm schrieb. Auch wenn Fresco erst 2019 in den App-Stores erschien, stützt sich die Anwendung auf jahrzehntelange Erfahrung und ist zusätzlich auf Windows Geräten verfügbar. Groß war auch das Staunen bei den ersten Demo-Videos. Die Ernüchterung kam schnell, als die Bezahlschranke den kreativen Weg versperrte. So entwickelte sich langsam eine kleine Fresco-Fangemeinde, die Größe der Procreate-Fanbase konnte sie aber nicht erreichen. Um schwindende Kunden zurück zur Adobe-Familie zu führen, hat sich der Konzern entschieden, die Schranken zu öffnen, sodass Fresco kostenlos und im vollen Umfang geladen und benutzt werden kann. Ein Grund genug, um mich selbst mit Fresco zu beschäftigen.
Ich arbeite seit 2019 ausschließlich mit Procreate. Auch wenn ich die kreativ Applikationen von Affinity ausprobiert habe, blieb ich Procreate treu. Ich habe meine eigenen Pinsel, Farbpaletten und den gesamten Workflow auf meinen Stil optimiert. So war mein Fresco-Test auf einen angenehmen Workflow und authentisches Endergebnis ausgerichtet.
Startklar
Die App war schnell geladen und beim Öffnen wurde ich aufgefordert ein (kostenloses) Adobe Konto zu erstellen oder in mein Bestehendes einzuloggen. Was für Neueinsteiger abschreckend wirken kann, ist ein wichtiger Pluspunkt. Fresco ist mit dem Adobe Cloud Service verknüpft und alle Projekte werden automatisch gesichert. Procreate lässt bis heute so ein Backup Feature vermissen. Da ich schon ein Konto besitze, war ich auch schnell eingeloggt und startklar. Die Fresco Mutter Photoshop besitzt eine sehr umfangreiche Oberfläche und so war ich über das minimalistische Design von Fresco überrascht. Hier hat man in der Entwicklung klar abgeguckt. Schnell waren daher alle wichtigen Funktionen gefunden.
Nach 4 Stunden Dauernutzung hatte ich einen Cartoon fertiggestellt, wo nur sehr geschulte Augen einen Unterschied erkennen können. Das Arbeiten verlief größtenteils intuitiv und ich wurde von fast nichts abgelenkt. Trotzdem gab es einige kleinere und größere Unterschiede.
Vector & Pixel
Ein wichtiger USP von Fresco ist die Kombination von Vektorgrafik und Pixelgrafik. Procreate ist ausschließlich pixelbasiert. In der Praxis heißt das, wenn man einen 2-Meter-Banner für einen Comicstand designt, wird der Ausdruck schnell pixelig und unscharf. Vektorgrafik ist in jeder Größe verlustfrei und bei professionellen IllustratorInnen in Verwendung. Dieses zweigleisige Konzept kenne ich zwar schon von Affinity Designer, Frescos einfache Oberfläche kann hier besser punkten.
Bibliothek
Fresco bietet in der nun kostenlosen Version ein großes Sortiment an Pinselwerkzeugen. Als Mitglied der Adobe-Familie können Photoshop-Pinsel, die man bereits besitzt, einfach importiert und in Fresco weiterverwendet werden. Procreate bietet ebenfalls eine große Bibliothek an, zusätzlich gibt es viele Marktplätze, die neue Pinsel anbieten. Jedoch ist das Dateiformat ein exklusives und man kann nicht in Photoshop oder Fresco importieren. Dank der großen Auswahl in Fresco habe ich aber ein Pinselwerkzeug gefunden, der meinen Procreate Pinsel sehr nahekommt.
Zu viel Bunt ist nicht gesund
Etwas verzweifelt war ich beim Versuch, meine Farbpaletten zu erstellen. Fresco verfügt über das übliche Farbrad, aber seine Lieblingsfarbe kann man damit nicht dauerhaft speichern. Erst nach einigen YouTube-Videos habe ich die Lösung gefunden. Nur über color.adobe.com kann man Paletten erstellen und in seine Cloud-Bibliothek abspeichern. Da Fresco mit der Cloud synchronisiert, sind diese erst dann in Fresco verfügbar. Ebenso verhält es sich mit Schriftarten. Die App greift primär auf die installierten Schriftarten deines Tablets zu. Möchte man aber eigene Comic-Fonts verwenden, müssen diese am Tablet installiert oder über die Adobe Cloud hochgeladen werden. Hier gehen beide Punkte an Procreate. Die Verwaltung von Farbe und Schriftarten ist sehr einfach, wenn auch nicht in der Cloud gesichert.
Mass Effects
Procreates letztes großes Update brachte eine Menge an Effekten mit. Ich habe mal grob zusammengezählt und bin auf mindestens 10 gekommen. Fresco bietet mit Helligkeit, Sättigung und Balance nur magere drei Effekte. Kein Scharfzeichnen, kein Blur-Effekt, ebenso kein Halftone- oder Glitch-Effekt. Lediglich die zusätzlichen Verzerrungseffekte, die man aus Photoshop kennt, sind in Fresco wie auch in Procreate integriert. Hier bietet Procreate eindeutig Mehrwert. Wo beide Anbieter aber säumig sind, ist der Farbverlauf. Weder in Fresco noch in Procreate gibt es eine Option, Farbverläufe auf einfache Weise zu erstellen.
Fazit
In diesen 5 Kategorien unterscheidet sich Fresco zu Procreate am meisten. In den restlichen Features gibt es viele Parallelen. Der eigene Zeichenfortschritt wird im Hintergrund aufgezeichnet, um ein Timelapse-Video zu exportieren. Das fertige Werk kann in vielen gängigen Dateiformaten exportiert werden. Fresco wie Procreate können im Industriestandard-Format Photoshop exportieren. Ebenso gibt es bei beiden eine Frame-by-Frame-Animationsmöglichkeit. Wer den Schwerpunkt auf Animation legt, sollte hier aber ein alternatives Adobe-Programm verwenden. Auch Procreate hat mit „Dreams" eine eigene Applikation für Animation herausgebracht.
Nach meiner Wertung geht Fresco erstaunlicherweise mit 2 Punkten in Führung. Die Verfügbarkeit auf PC und Windows-Tablets, die Integration eines Cloudspeichers sowie die Möglichkeit, hochwertige Vektorgrafiken zu erstellen, sind ein starkes Argument. Der Preis von 0 € ist die Einladung für EinsteigerInnen, die sich in der digitalen Kunst ausprobieren möchten. Da vieles in der Adobe Cloud gespeichert wird (Projektfiles, Farben, Schriften, Assets), sind die 4 GB schnell verbraucht und auf einen Abschluss eines Abos ausgerichtet. Wenn man gut haushaltet und seine fertigen Projekte auf die externe Festplatte oder einen anderen Speicherort sichert, reicht der freie Speicher für die meisten semi-professionellen AnwenderInnen. Die einfache, intuitive Oberfläche macht Freude und motiviert auch mich, öfter mit Fresco zu arbeiten. Wer also keine einmaligen 15,99 € für Procreate ausgeben, aber in der gleichen Qualität arbeiten möchte, dem kann ich Fresco wärmstens empfehlen.
Meine Auswertung im Detail
Was hält ihr von Fresco? Habt ihr damit schon gearbeitet? Schreibt mir gerne eure Meinungen und Erfahrungen in den Kommentaren.
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Interessant! Ich habe noch nicht mit Fresco gearbeitet, bin nur seit ein Jahr am Procreate (und arbeite immer auch noch in PS, für Text hauptsächlich). Vielleicht werde ich er jetzt mal ausprobieren!